Frau schaut auf den Horizont

Mitgefühl ist eine Qualität, die unser Zusammenleben reicher, tiefer und einfach schöner macht. Als soziales Wesen hat theoretisch jeder Mensch das Potenzial in sich, mitfühlend zu sein. Neuere wissenschaftliche Studien besagen sogar, dass Mitgefühl überlebensnotwenig sei.

Viele Menschen spüren in sich den Wunsch, für ihr Gegenüber da sein zu wollen. Es macht uns glücklich, anderen zu helfen und Raum für deren Bedürfnisse zu halten. Und es macht uns glücklich, das echte Mitgefühl anderer selbst zu spüren. Das ist keine daher gesagte Wohlfühl-Weisheit. Wenn wir die Fürsorge einer anderen Person erleben, passieren im Körper spannende Prozesse. So wird z.B. das sogenannte Wohlfühl-Hormon Oxytocin vermehrt ausgeschüttet, wenn wir uns sicher, entspannt und gesehen fühlen. Das Gleiche passiert übrigens auch dann, wenn wir uns selbst liebevolle Fürsorge schenken.

Nur warum fällt es uns oft so verdammt schwer, gerade uns selbst gegenüber mitfühlend zu sein? Wieso übertragen wir die guten Impulse, die wir anderen geben (Du hast dir eine Pause verdient | Es ist total okay, traurig zu sein | Nein zu sagen ist wichtig und nötig) nicht auch auf uns selbst?

“If your compassion does not include yourself, it is incomplete” sagt der bekannte Meditationslehrer Jack Kornfield, der Wohlwollen uns selbst gegenüber sogar als Basis des spirituellen Weges bezeichnete. Vor diesem Hintergrund ist dieser Artikel kein Plädoyer für Egoismus, sondern ein Aufruf zu mutiger Authentizität und gesunder Selbstannahme, von der schlussendlich alle profitieren.

Begegnung mit dem inneren Kritiker

Vorwürfe, Kritik, Verurteilungen: Eine Liste unserer scheinbaren Unzulänglichkeiten schreibt sich für viele traurigerweise einfacher als eine Liste unserer Vorzüge. Wir alle tragen einen inneren Kritiker in uns, der uns auf Dinge aufmerksam macht, die besser laufen könnten. Der innere Kritiker ist eine wichtige Instanz, die uns dabei hilft, uns weiterzuentwickeln. Nicht selten hat der Kritiker allerdings mit schroffer Stimme das Kommando übernommen, was zu übermäßiger und teilweise selbstzerstörerischer Selbstkritik führt.

Warum? Zum Teil deshalb, weil wir in einer Gesellschaft leben, die auf Leistung und Optimierung ausgerichtet ist und in der Fehler selten als natürlicher Teil des Wachstumsprozesses verstanden werden. Noch dazu haben wir ein völlig unrealistisches Bild davon entwickelt, was uns wertvoll macht. Die Medien tragen ihren Teil dazu bei. Um geliebt zu werden, müssen wir uns immer von unserer besten Seite zeigen, so geht das moderne Märchen. Schattenanteile unserer Persönlichkeit sollen bitte dort bleiben, wo sie niemand sehen kann, zugedeckt und versteckt. Diese Art von Denken fördert nicht nur, dass wir ständig meinen, noch nicht gut/schlau/schön/erfolgreich und schlussendlich liebenswert genug zu sein, sondern sie löst auch ganz messbare Reaktionen im Körper aus:

Übertriebene Selbstkritik aktiviert die Amygdala, ein Stresszentrum im menschlichen Gehirn. Selbstkritik wird als Bedrohung empfunden, wodurch Stresshormone vermehrt ausgeschüttet werden, der Blutdruck steigt und der Körper geht in den Kampf- oder Fluchtmodus über. Kurzum: Übertriebene Selbstkritik verursacht Stress. Die gute Nachricht: Wir können lernen, aus dieser Spirale auszusteigen und uns selbst echtes Wohlwollen zu schenken.

Wieder fühlen lernen

Mitgefühl hat das Fühlen schon im Namen: Der erste Schritt zu mehr Selbstmitgefühl ist das Innehalten und Spüren. Frag dich:

  • Was kann ich in meinen Körper wahrnehmen (Enge, Weite, Anspannung, Vitalität, Schwere, Leichtigkeit, Kribbeln, Taubheit …)?
  • Welche Gefühle sind gerade da (Trauer, Wut, Angst, Freude, Scham …)?
  • Wie ist die Qualität meines Geistes (klar, trüb, aktiv, ruhig, fokussiert, zerstreut …)?

Was jetzt so einfach klingt, ist für viele alles andere als leicht, denn die wenigsten haben von den Eltern oder in der Schule gelernt, unseren körperlichen oder mental-emotionalen Zustand bewusst wahrzunehmen. In meinen frühen 20ern hatte ich das große Glück, eine Therapie bei einem Psychologen zu machen, der viel mit Achtsamkeit arbeitete. Auf seine wöchentliche Frage „Was fühlen Sie gerade?“ konnte ich die ersten zwei Monate immer nur mit einem Schulterzucken antworten. Ich hatte einfach keine Tools und kein Vokabular dafür zu wissen und zum Ausdruck zu bringen, was ich fühlte. Diese Kompetenz ist erforderlich, um Selbstmitgefühl zu entwickeln und zudem wesentlich, um überhaupt authentisch für andere da sein zu können.

Die Schönheit der Bedürfnisse

Nach einem Check-In mit uns selbst besteht der nächste Schritt darin, die eigenen Bedürfnisse zu definieren. Wonach sehnst du dich gerade? Was brauchst du – körperlich, emotional und mental? Vielleicht merkst du, dass du dringend Ruhe und Schlaf brauchst, weil dein Körper sich schwach anfühlt. Vielleicht spürst du eine Schwere im Herzen und sehnst dich nach einer Umarmung und Austausch mit deinen Liebsten. Oder du spürst ein Kribbeln und Tatendrank, um deine Visionen zum Leben zu bringen. Nimm deine Bedürfnisse ernst. Sie immer wieder zu ignorieren führt langfristig nicht nur zu Unzufriedenheit, sondern kann sich auch in Krankheit äußern.

Besonders wenn es dir gerade schlecht geht ist die ideale Zeit, deine Selbstmitgefühls-Skills zu trainieren. Denn dann neigen wir meist umso mehr dazu, uns selbst zu verteufeln. Hier wird auch schnell der Unterschied zwischen Mitfühlen und Mitleiden deutlich: In Selbstmitleid zu versinken ist destruktiv, Selbstmitgefühl bedeutet liebevolle Annahme dessen, was gerade da ist.

Eine Selbstfürsorge-Routine entwickeln

Selbstmitgefühl ist ein aktiver Prozess. Wir können lernen, uns selbst gegenüber mehr Mitgefühl aufzubringen, auch in stressigen Situationen oder wenn der innere Kritiker besonders laut nach Aufmerksamkeit schreit. Was brauchst du also, um gut für dich selbst zu sorgen? Auch wenn es nur 1% von dem ist, was deine Idealvorstellung wäre: Tu es! Entwickle eine persönliche Selbstfürsorge-Praxis. Fokussiere dich darauf, freundlich, annehmen und liebevoll mit dir selbst zu sein – so wie du es zu deiner besten Freundin der deinem besten Freund wärst.

Schlussendlich ist es eine Umprogrammierung unserer Muster, die uns oft schon ein ganzes Leben unbewusst begleiten – und die darum viel Zeit und Geduld brauchen, um verlernt zu werden. Meditation ist dabei ein starkes Werkzeug, um unser Selbstmitgefühl und Mitgefühl mit anderen zu schulen, z.B. die buddhistische Metta-Meditation.

Nimm dir Zeit für dich.

Hör dir selbst gut zu.

Nimm deine Bedürfnisse ernst und handle nach ihnen.

Selbstliebe ist ein radikaler Akt. Und schlussendlich auch das Beste, was du für andere tun kannst.

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Photocredit: Sasha Freemind | Unsplash

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