Frau taucht im Meer

Er ist unser ständiger Begleiter, kann unser bester Freund sein und ist nichts weniger als die direkte Anbindung zum Leben selbst: der Atem. Er versorgt uns in einem fortlaufenden, komplexen und gleichzeitig so mühelosen Prozess über die Luft mit Energie, also mit Sauerstoff und Prana (vitaler Lebensenergie). Der Atem ist der Antrieb unseres Lebens. Wenn du für nur eine Minute versuchst, die Luft anzuhalten, merkst du schnell, was ich meine. Wie kann es dann eigentlich sein, dass wir dem Atem im Alltag so wenig Aufmerksamkeit schenken? Es ist ziemlich simpel und leider auch traurig …

Der Atemprozess passiert, ständig, unabhängig von unserem Zutun. Er ist subtil und fein. Das Problem ist: Unser Alltag ist oft das genaue Gegenteil von subtil und fein. Er ist überladen, hektisch, laut – wer hat heute schon Zeit, auf den Atem zu achten? Aber wenn du dich traust, es doch zu tun – den Atem zu deinem präsenten Begleiter zu machen – tust du nicht nur was für deine Gesundheit, sondern kannst auch aus genau diesem destruktiven Alltagsrad aussteigen, das überhaupt erst dazu geführt hat, dass wir die Verbindung zu unserem wichtigsten Werkzeug beim Navigieren durch das Leben verloren haben. Und du kannst den Atem gezielt nutzen, um dich frei zu machen und Schmerz und Stress loszulassen.

Der Körper als Schmerzspeicher

Alle Gedanken, Gefühle und Eindrücke, die wir im Moment ihres Auftretens nicht voll erlebt und direkt verarbeitet haben, sind in den Zellen unseres Körpers wie Ballast abgespeichert und sorgen für innere Anspannung. Diese gebundene Energie ist somatisch gespeicherter Schmerz. Schwierige Erlebnisse, die wir in der Vergangenheit einfach nicht tragen und durch uns durchfließen lassen konnten, werden zu Traumata, die sich oft als physischer Schmerz je nach Thematik an unterschiedlichen Stellen des Körpers bemerkbar machen.

Wir können sie heute durch Präsenz und den Atem Schicht für Schicht abtragen – ohne uns dabei auf der Verstandeseben mit den Situationen auseinandersetzen zu müssen. Denn der Atem ist die Brücke zwischen Körper und Geist. Die Auswirkungen des Atems auf den Geisteszustand sind mittlerweile auch modern-wissenschaftlich gut belegt.

Ein einfaches Beispiel zur Verbindung von Atem und Gefühlswelt wäre ein tiefer Seufzer mit langer Ausatmung, wenn wir erleichtert sind. Oder das Anhalten des Atems, wenn wir einen Schock erleben.

Du kannst dir selbst kein besseres Geschenk machen, als zu lernen, den Atem bewusst zu nutzen und zu lenken. Er wird zwar meist unbewusst über das vegetative Nervensystem ohne unser Zutun gesteuert, aber – und das ist wirklich etwas Besonderes – wir können ihn auch bewusst regulieren. Bei welchem anderen Körpersystem geht das so einfach? Weder beim Herzschlag (auch wenn fortgeschrittene Yoginis und Yogis sogar ihren eigenen Herzschlag bewusst runterregulieren können) noch beim Blutkreislauf oder dem Verdauungsprozess.

Atmen für die Gesundheit

Das heißt wir können über den Atem unser Wohlbefinden steigern und ihn nutzen, um z.B. in Stresssituation, bei Schmerzen oder wenn wir wenig Energie haben positiv auf unser System einzuwirken. Flach, tief, schnell, langsam, rund, holprig… damit ist jeder Atemzug auch ein Spiegel unseres gegenwärtigen Zustandes – mental, emotional und physisch.

Bevor wir damit anfangen, Einatmung und Ausatmung zu verlängern, zu verkürzen oder zu intensivieren und Atempausen einzubauen, ist der erste Schritt das ganz bewusste beobachten und erfahren des natürlichen Atems. Wenn wir nach einer Weile mit unserem besten Freund in Kontakt gekommen sind, können wir durch verschiedene Atemübungen (im Yoga „Pranayama“ genannt) je nach Bedürfnis auf unser System Einfluss nehmen.

Atemübung bei Schmerzen und Stress

Was heute als 4-7-11 Methode immer bekannter wird, kennen die Yogis seit Jahrtausenden: Das Verlängern der Ausatmung, um Schmerzen und Stress loszulassen und abzuatmen. Bei der 4-7-11 Methode ist das Prinzip, 4 Sekunden lang ein- und 7 Sekunden lang auszuatmen – und das 11 Minuten lang, am besten täglich. Im Kontext des Yoga lassen wir die Ausatmung doppelt so lang werden wie die Einatmung, also z.B. 4 Sekunden lang ein und 8 Sekunden lang aus (oder 6/12, 8/16 – je nach Atemvolumen und Übungslevel).

Wird die Ausatmung länger als die Einatmung, wird das vegetative Nervensystem reguliert, der Herzschlag wird langsamer, der Geist beruhig sich und Klarheit und Tiefenentspannung treten ein.

ANLEITUNG

  • Komm in einen aufrechten und bequemen Sitz, damit die Energie entlang der Wirbelsäule frei fließen kann. Das kann im Schneidersitz auf einem Kissen sein oder auch auf einem Stuhl.
  • Leg die Hände locker auf den Knien an. Du kannst die Finger in die Yoga-Mudra bringen (Daumen und Zeigefinger zusammenbringen, Handflächen zeigen zur Decke).
  • Mach den Nacken lang, entspann die Beine, schließ die Augen.
  • Verbinde dich zuerst mit deinem natürlichen Atem. Beobachte, wie der Atem durch die Nase ein- und ausströmt.
  • Dann schick den Atem bis tief in den unteren Bauchraum (tiefe Bauchatmung). Die Bauchdenke wölbt sich dabei bei der Einatmung. Bei der Ausatmung zieh den Bauchnabel aktiv nach innen und oben, ohne dabei zu verkrampfen.
  • Komm jetzt in den Rhythmus mit verlängerter Ausatmung, der für dich gut passt. Leichtigkeit ist angesagt! Atme z.B. 4 Sekunden lang ein und 8 Sekunden lang aus.
  • Mach die Übung mind. 5 Minuten, noch besser 10 oder vielleicht sogar 30 Minuten lang.
  • Anschließend beobachte noch eine Weile deinen natürlichen Atem und gib dir selbst die Möglichkeit zur Integration.

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Photocredit: Jeremy Bishop | Unsplash